Seiten

Dienstag, 10. März 2015

Was ich an meinem neuen Arbeitgeber mag

Seit fast zwei Jahren liegt hier ein Entwurf und schmort völlig unbeachtet vor sich hin. In Anbetracht dieses völlig frustrierenden Artikels in der SZ finde ich, ich könnte ihn ruhig mal veröffentlichen.

Seit fast zwei Jahren, arbeite ich (eigentlich Friseurmeisterin) im Callcenter eines großen deutschen Onlineunternehmens und muss auch mal Lob aussprechen. Die Anfangsbegeisterung hat sich etwas gelegt, natürlich ist der Job nicht ultra erfüllend und man wird nicht reich. Auf Dauer kann es auch monoton und langweilig sein, aber ich gehe trotzdem nicht wieder ins Handwerk zurück. Gründe gibt es dafür viele und einige hatte ich vor fast zwei Jahren notiert. (Ein ganz klein wenig habe ich inzwischen korrigiert.)

Was ich an meinem Arbeitgeber mag:

"Es gibt Getränke und Obst für alle. Völlig gratis.
Der Kaffee ist Fair Trade, das Obst bio.
Der Dienstplan wird von einem objektiven Programm mit Hilfe komplizierter mathematischer Formeln errechnet, das sich so gut es geht an die Wünsche der Arbeitnehmer hält und alle wirklich gleich behandelt. Zur Not gibt es auch eine Tauschbörse für Arbeitszeiten.
Die Leute sind freundlich und meistens gut drauf.
Niemand sagt, das haben wir schon immer so gemacht. Es dürfen immer Veränderungsvorschläge gemacht werden. (Das geht so weit, dass sich ständig etwas verändert. Meistens besser mit kurzfristigen Verschlimmbesserungen.)
Ich bekomme (wenn ich will) ein Firmenticket für die Öffis günstiger als ein Abo.
Auch Leuten 50+ wird eine Chance gegeben.
Die Einarbeitung dauert so lange wie sie dauert. Am Anfang gibts Welpenschutz.
Pausen werden verpflichtend genauso eingehalten wie Arbeitszeit.
Überstunden gibt es nur freiwillig. Muss man aufgrund eines Kundengespräches mal länger bleiben, kann dies aufgeschrieben werden. ansonsten fahre ich pünktlich um Feierabendzeit meinen Rechner runter.
Alles hat seine Ordnung. Man weiß genau, zu wem man gehen muss und bekommt so schnell wie möglich eine Lösung.
Sämtliche Arbeitnehmerschutzgesetze werden eingehalten.
Datenschutz ist das A und O.
Niemand steht mit der Peitsche hinter einem. Natürlich gibt es ein transparentes Ziel, was geschafft werden sollte und regelmäßige Qualibewertungen. Liegst du drunter, gibt es ein faires Gespräch, wie man helfen könnte und ein Side by Side Coaching mit Trainerin. Auch dies findet auf Augenhöhe statt.
Regelmäßige Meetings im Team sorgen für mehr Transparenz, Verbesserungsvorschläge und Auskotzmöglichkeit.
Ist ein Feiertag in der Woche, arbeite ich nur vier Tage.
Das Gehalt ist pünktlich drei Tage vorm Monatsende auf dem Konto und der Gehaltszettel im Briefkasten.
Und das beste? Ich krieg 40% auf Schuhe und anderes.


Im Handwerk ist man solche Verhältnisse nicht gewohnt. Dort herrscht Chaos was das Zeuch hält. Dort wird sich so gut es geht nicht an Arbeitnehmerschutzgesetze gehalten und alle Veränderungen/Verbesserungen dauern immer Jahre.
Von Friseurinnen wird verlangt, dass sie morgens eher kommen und vorbereiten, Kaffee kochen, AB abhören, aufbauen, evtl aufräumen und schon mal ne Maschine Wäsche anschmeißen  und natürlich abends länger bleiben, bis alle blitzeblank und die Kasse (natürlich manuell) ausgerechnet ist. Dazu zählt unter Umständen auch das Putzen der riesigen Spiegel. Natürlich ist das keine Arbeitszeit. Als Arbeitszeit zählt nur die reine Öffnungszeit des Salons, abzüglich der Pause versteht sich. Und wenn du mal länger brauchst, weil du einen schwierigen Kunden hast. Pech.
Der Lohn ist niedrig und ab dem Monatszehnten wird vom Trinkgeld gelebt. Fällt dies weg, weil du krank bist? Pech. Für die Rente zählt es natürliuch auch nicht, geschweige denn Arbeitslosengeld oder Rente. (Da ich seit 2 Jahren raus bin, kann ich nicht beurteilen, inwiefern sich der Mindestlon geändert hat.)
Ergonomische Arbeitsplätze? Du kannst froh sein, wenn du einen Arbeitswagen zum Ablegen deines Werkzeugs zur Verfügung hast und ab und an einen Rollhocker benutzen kannst.
Apropro Werkzeug, so'ne Haarschneideschere kostet um die 150€, davon brauchst du mindestens zwei und die bringst du natürlich selbst mit.
Als Meisterin wirst du als Gesellin angestellt, weil eine Meisterin nicht benötigt wird.
Dazu kommt natürlich, dass du überall kleine Schnitthaare an dir hast, in den Klamotten, in den Schuhen, im Auge, in  der Lunge und oft sogar in der Haut steckend. Dagegen sind die chemischen Substanzen, mit denen du hantierst, ein Witz.
Natürlich solltest du dich freuen, wenn du mal zum Seminar darfst. Das machst du natürlich an deinem freien Tag.
Sollte ein Feiertag auf deinen freien Tag fallen, Pech.
Das Gehalt lässt oft auf sich warten. Du kannst froh sein, wenn du es am 5. bekommst. immerhin zahlst du gern Rücklastschriftgebühren.
Du solltest immer motiviert sein und natürlich auch an besonderen Veranstaltungen wie Messen, Feiern und Fotosessions auch mal an deinen freien Tagen unbezahlt helfen."

Natürlich werde ich auch diesen Job nicht bis an mein Lebensende machen, da er mich auf Dauer unterfordert, aber vorerst bleibe ich dort, denn mein Vertrag wurde inzwischen entfristet und ich laufe dort nicht Gefahr (wieder) einen Burnout zu bekommen.

13 Kommentare:

  1. Na das ist doch mal ein Statement. Gerade in dem Bereich dachte ich eher an Ausbeute und finde Deine Beschreibung richtig super. Danke und viel Spaß solange du dort bleiben möchtest.
    LG Jacky

    AntwortenLöschen
  2. Auch wenn ich es trotzdem schade finde das das Handwerk immer mehr verloren geht :
    Du hast recht an allen Fronten.
    Ich arbeite angegliedert an den öffentlichen Dienst, mit festen Arbeitsmodi die variable Dienste möglich machen. Geregelte Arbeitszeiten, Überstunden werden voll angerechnet, falls es die Patienten mal wieder eine Extrabegleitung brauchen, Urlaubsgeld und Arbeitsschutzgesetze.
    Manchmal ist es eintönig und öde manchmal spannend und herausvordernd.
    Den Gegenentwurf seh ich bei meiner Tochter :
    Restaurantfachfrau. Fürchterlich. Arbeitszeiten völlig schwammig,ständig wird gegen das Jugenarbeitsschutzgesetz verstoßen, Urlaubssperren in der Hochsaison. Früher kommen ist vorrausetzung und vor 12 Uhr nachts ist sie daheim. Bezahlung ist unterirdisch und die Gäste oft anzüglich oder/und unverschämt.

    Ich habe grossen Respekt das sie das durchhält. Ich habe damals mit 16 nach 4 Wochen alles hingeschmissen.
    Ich mag Handwerk, aber ich kann sehr gut verstehen warum heute dort kaum jemand noch arbeiten will.

    Liebe Grüße
    Stella

    AntwortenLöschen
  3. Nie daheim, übrigends. Nie ist vor 12 daheim. Obwohl ihre Schicht um 9.30 anfängt.
    Ohne Pause wohlgemerkt.
    Sie ist übrigens 17.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, ich glaub, vom Gastrogewerbe darf man da gar nicht erst anfangen. Die Arbeitszeiten sind die schlimmsten. Da biste ja als normale Arbeitsbiene noch mehr vom Trinkgeld abhängig und ich möchte gar nicht wissen, wie ausufernd manche Gäste unter Alkoholeinfluss werden. Da bin ich echt froh, dass ich die Bekloppten nur am Telefon oder gar nur schriftlich habe.
      Deine arme Tochter!

      Löschen
  4. Das du nicht mehr als Friseurin arbeiten willst kann ich verstehen. Ich finde die Arbeitsbedingungen extrem schlecht. Mieser Lohn, sehr mieser, da kann niemand alleine von leben, geschweige eine Familie unterhalten und die restlichen Bedingungen sind auch nicht gerade motivierend - nachdem was du aufzählt wird meine Meinung noch schlechter. Dazu kommt das ein Friseurbesuch für mich recht teuer ist - ich habe lange Haare, meine Friseurin aber am Ende nichts davon hat. Wie kommt das? Der Beruf erfordert so viel, Fein- und Fingerspitzengefühl, sehr gutes Handwerkliches Können, ein gutes Auge und und und. Der Umgang mit vielen verschiedenen Menschen deren Haar anders ist und ein jeder andere Wünsche hat finde ich oft sehr schwer. Ich habe Bekleidungsschneiderin gelernt und hier ist es ähnlich (aber nicht ganz so schlimm, vor allem gibt es dort nicht mehr viele Arbeitsstellen im Inland). Und obwohl ich den Beruf liebe und weiter mit Hingabe privat nähe - es wieder beruflich machen möchte ich nicht. Als Hobby kann ich da kreativer sein. Und würde auch eher in einem Callcenter arbeiten. Das hörts sich so schlecht ja nicht an.
    Lg Regina

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Was ist denn teuer für eine Arbeitsstunde bei langen Haaren für dich? In der Autowerkstatt würdest du für die reine Arbeitszeit in Berlin ca 60-80€ zahlen plus Material. Für nen Langhaarschnitt finden viele schon 45€ all inclusive schon Wucher. Letztlich müsstest du für einen Haarschnitt, wenn es angemessen sein sollte, schon auch mindestens die Arbeitsstunde eines anderen Handwerkers zahlen. (Denn ein guter Haarschnitt braucht imho im Durchschnitt eine Stunde.)
      Ungefähr 1/5 bis 1/3 (je nach Lage des Salons) des Preises bekommt die Friseurin und da braucht man nicht denken, dass die Chefin wesentlich mehr im Monat für sich raus bekommt. Der Rest ist Kosten.
      LG

      Löschen
    2. Ich zahle hier erheblich mehr als 45€, aber das ist es auch nicht. Ich bin durchaus bereit einen angemessenen Preis zu zahlen. Aber ich finde, das der Beruf halt sehr schlecht bezahlt wird (unabhängig davon was ich für eine Haarschnitt zahle). Der Automechaniker meines Vertrauens nimmt 75€ die Stunde, hat eine Werkstatt, fährt ein schickes Auto und kann seine Familie ernähren. Bei Friseurinnen, Kellnerinnen und auch in der Bekleidungsindustrie geht diese Rechnung eher nicht auf. Und meiner Meinung nach sollte man bei einem 40 Stunden Job schon in der Lage sein Wohnung und Lebensunterhalt bezahlen zu können.

      Löschen
  5. Super, dass du das mal aufgeschrieben hast. Ich finde es sollten alle wissen, wie das im Handwerk und bei Dienstleistungen so läuft, schließlich nutzen das ja - fast ;) - alle.
    Bessere Bezahlung und mehr Respekt wären bei so vielen Jobs so nötig.
    LG frifris

    AntwortenLöschen
  6. Ich finde es gut, dass Du auch mal die positiven Seiten eines Callcenter-Jobs beschreibst. Häufig werden die ja als die pure Ausbeuterei gesehen, aber ich denke, dass muss man differenziert sehen.
    Ich bin einmal jährlich zur Revision im Callcenter meines Arbeitgebers und habe da auch den Eindruck, dass es sehr fair und geregelt zugeht.
    Die Zustände im Handwerk kenne ich auch aus dem Freundeskreis (Floristen). Die Wenigsten arbeiten noch in ihrem Beruf, obwohl sie ihn eigentlich sehr mögen, aber leider nicht oder nur sehr schlecht davon leben können. Und von den Arbeitszeiten und Überstunden mal ganz zu schweigen....

    LG Luzie

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, das habe ich vergessen zu erwähnen. Eigentlich liebe ich Haareschneiden sehr. Es ist eine Schande.

      Löschen
  7. Vielen Dank für deinen Bericht. Wir haben ja beim Treffen schon ein bisschen darüber geredet, aber hier führst du es noch mal genauer aus. Dass die Unterschiede so gravierend sind, war mir nicht bewusst. Und dass die Arbeitsbedingungen für Friseurinnen so mies sind auch nicht... ich wollte selber mal eine werden - jetzt bin ich froh, dass meine Eltern dagegen waren!
    Liebe Grüße,
    yacurama

    AntwortenLöschen
  8. Wie schön, dass es Dir gefällt und gut geht mit der Arbeit. Wie traurig, dass Dein Beruf Dir so grundlegend vermiest wurde, ich denke immer, wenn wir selber faire Löhne wünschen und erwarten, müssen wir entsprechend auch alle Dinge, die wir konsumieren entsprechend bezahlen, so einen 10 € Friseur hatte ich mir schonmal abgewöhnt (oder nacht es keinen Sinn?)... LG Michaela

    AntwortenLöschen
  9. Danke, danke für diesen tollen Beitrag. Jetzt bestelle ich mit noch besserem Gewissen bei deinem Arbeitgeber weiterhin meine Schuhe und gebe den Friseurinnen noch mehr Trinkgeld. Lotti sei Dank.
    LG karin

    AntwortenLöschen

Vielen Dank für deinen Kommentar. Auch wenn ich nicht immer antworte, lese ich jeden Kommentar und freue mich sehr darüber.